Auszüge aus einem Artikel in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 09.05.2004
Jahrelang war der Film nur ein Phantom. So wie sich hartnäckig das Gerücht hält, im Untergrund gebe es sogenannte snuff movies, die tatsächlich zeigen, wie Menschen vor der Kamera umgebracht werden, so galt dieser Film als eine Art feuchter Traum von Autobahnrasern.
Die nur knapp neun Minuten sind vielleicht der schönste und verrückteste Dokumentarfilm, der je gedreht worden ist. Es beginnt mit einer Einblendung, auf die der Regisseur Wert gelegt hat: In diesem Film gebe es weder Tricks noch Zeitraffer. Und die Bewegungen der Passanten und der im gelben Scheinwerferlicht auffliegenden Tauben belegen, daß das nicht gelogen ist. Aber die Warnung ist berechtigt, weil es heutzutage ganz andere Methoden gibt, die Zuschauer hinters Licht zu führen und es noch nicht einmal mehr hilft, wenn man die Augen aufhält. Aber dies ist 1976, als ein Film noch ein Film war und keine digitalen Tricks dem Material ihren Willen aufzwingen konnten. Hier ist also ein Filmemacher, der mit seinem Leben für die Authentizität des gedrehten Materials einstand, und was immer man über die parfümierten Filme von Claude Lelouch denken mag: Die bei den Dreharbeiten von "Ein Hauch von Zärtlichkeit" übriggebliebene Filmrolle, die er an diesem Augustmorgen im Jahr 1976 in seine Kamera einlegte, spricht eine andere Sprache. Was man da sieht, ist mehr als nur ein Hauch von Leichtsinnigkeit.
Es geht los auf dem Peripherique, wo die Kamera an der Porte Dauphine aus einem Tunnel auftaucht und die Abfahrt hinaufschießt zur Avenue Foch, die den Schlaf des Großbürgertums mit Bäumen vor dem Verkehrslärm schützt. Man hört das Heulen des V12-Motors, das Schalten der Gänge und das Quietschen der Reifen und gerät durch die bodennahe Perspektive, die das Straßenpflaster wie in einem Sog zu beschleunigen scheint, schnell in einen tranceartigen Geschwindigkeitsrausch, der tatsächlich an Computerrennspiele wie "Need for Speed" erinnert. Hinauf zum Arc de Triomphe, wo die letzten Nachtschwärmer sich nach Hause orientieren, die Champs-Elysées hinab zum Concorde, da ist das erste halbe Dutzend roter Ampeln bereits überfahren. Am Ende werden es fünfzehn sein, aber auch ohne Ampeln wird die Vorfahrt fröhlich mißachtet.
Über den Quai des Tuileries geht es durch den Jardin du Carrousel im Hof des Louvre, ohne rechts oder links zu gucken, Richtung Opéra. Kurz davor stehen die Ampeln wieder auf Rot. Ausweichen auf die Gegenfahrbahn, Augen zu und durch, an den Galeries Lafayette vorbei zu Trinité und weiter zum Pigalle. Die Straßen werden enger, die Müllabfuhr ist unterwegs, scharfes Abbremsen, eine Frau mit Hund drückt sich erschreckt an die Häuserwand, beim Pigalle dann links den Boulevard de Clichy hinauf. An der Place Blanche eine kurze Irritation: Der Wagen schwenkt nach rechts, überlegt es sich dann doch anders und fährt geradeaus zum Friedhof, rechts in die Rue Coulaincourt, die in einem Bogen den Montmartre hinaufführt.
Man weiß nicht, ob sich der Fahrer an der Place Blanche geirrt hat oder ob ein Hindernis in Sicht kam - der Wagen schwenkt zu früh zurück. Aber noch während man darüber nachdenkt, schwenkt er in einem U-Turn in die Avenue Junot, die den Hügel noch mal umrundet, in die Rue Norvins mündet und über die Place du Tertre zu Sacre-Coeur führt. Zu Füßen der Basilika kommt der Wagen oberhalb der Treppe zum Stehen, eine blonde Frau kommt die Stufen emporgelaufen, der Fahrer steigt aus, läuft auf sie zu und umarmt sie, dann die Einblendung: "C'etait un rendezvous filme par Claude Lelouch". Den Kopf des Fahrers sieht man nicht, aber seine Statur ähnelt der des Regisseurs. 7:52 Minuten hat er quer durch Paris gebraucht, von der Porte Dauphine bis zu Sacre-Coeur, eine Strecke, für die man zu Stoßzeiten auch gut mal eine Stunde brauchen kann.
Claude Lelouch hat sich nach jahrzehntelangem Schweigen doch noch zu dem Film geäußert: Die Blondine, die ihn zum Rendezvous erwartet, sei seine damalige Lebensgefährtin Gunilla Karlzon gewesen, die sich aufs Motorengeräusch hin in Bewegung gesetzt habe. Und an der einzig wirklich gefährlichen Stelle, aus dem Louvre hinaus über die Rue de Rivoli in die Avenue de l'Opéra, habe er seinen Assistenten Elie Chouraqui mit einem Sprechfunkgerät postiert für den Fall, daß ein anderer Wagen dazwischenkommt. Der habe sich aber nicht gerührt, weshalb Lelouch mit Vollgas durchgefahren sei. Hinterher sei Chouraqui zu ihm gekommen und habe sich entschuldigt, daß das Funkgerät nicht funktioniert habe - da dämmerte Lelouch erst, was für ein Glück er gehabt hat. Der Puls des Zuschauers ist an dieser Stelle ohnehin auf 180.
Die einzige Enttäuschung erwartet einen, wenn man sich die Mühe macht, die Geschwindigkeit tatsächlich zu messen. Dann stellt man fest, daß Lelouch für 1910 Meter Champs-Elysées 64 Sekunden braucht, was ein Tempo von nur 110 km/h ergibt - aber es ist in jedem Fall schneller, als die Polizei erlaubt.
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